Glauben Sie nicht alles, was Sie denken – Valerija Sipos und Ulrich Schweiger – Herder Verlag – Rezension
Nach einer Einführung über die Thematik des Buches und Betrachtungen zu der Frage „Was ist eigentlich besonders am menschlichen Gehirn?“ gliedert sich das Buch ist in vier Teile.
In Teil 1 (Seite 19 bis Seite 172) werden die psychischen Funktionen des Gehirns ausführlich erklärt.
Es wird dargestellt, dass psychische Funktionen und Verhaltensweisen sich an die Evolution des Menschen und deren Umwelt immer wieder anpassen und auch vererbt werden. Unsere Verhaltensprogramme, Emotionen und kognitive Werkzeuge haben aber auch Nachteile, eben Nebenwirkungen.
Dazu gehört, dass
- die menschliche Erinnerungsfähigkeit fehlerhaft ist.
- Menschen kontrafaktisch denken.
- uns ungeprüftes regelgeleitetes Verhalten unter Umständen in Schwierigkeiten bringt.
- Metakognition nicht bei allen Menschen gleich groß ausgeprägt ist.
- mentale Simulation zu falschen Überzeugungen führen kann.
- Werte keine Naturgesetze sind und häufig mit Tugenden oder Zielen verwechselt werden.
- uns unsere angeborenen Verhaltenstendenzen oft einschränken.
- wir bei Selbstreflektion oft Gründe und Ursachen vertauschen.
- der Arbeitsspeicher unseres Gehirns nur bedingt aufnahmefähig ist.
- Menschen mit Vorurteilen und negativen Selbstaussagen aufgrund des schnellen Bewertungssystems der Zwei-Prozess-Theorie kämpfen.
- Faustregeln (Heuristiken) das Leben leichter machen, jedoch unseren Blick aufs Ganze einschränken.
- unser emotionsgetriebenes Verhalten meistens nicht zum gewünschten Erfolg führt.
- mit kognitiver Fusion die simulierte Realität und die wahrgenommene Realität vermischt werden.
Unsere seelische Gesundheit wird durch dem flexiblen Hin- und Herwechseln zwischen dem Objektmodus (Handeln und Denken sind eins) und dem metakognitiven Modus (ich bin mein eigener Betrachter meines Denkens, Fühlen und Tuns) bestimmt.
Teil 2 (Seite 173 bis Seite 220) beschäftigt sich mit den Auswirkungen der Nebenwirkungen im Alltag.
Alle Menschen haben Bedürfnisse und Wünsche und dazu wird ausgeführt, welche Nebenwirkungen diese haben können.
- Das Bedürfnis nach Gruppenzugehörigkeit ist essentiell und bei drohendem Ausschluss reagiert unser Gehirn, als ob wir massiv bedroht würden.
- Der Wunsch nach Glück ist nicht dauerhaft zu erfüllen.
- Das Bedürfnis nach einer Paarbeziehung kann über alles andere wachsen und uns dadurch noch einsamer werden lassen.
- Das Streben nach Erfolg hört nicht auf, weil Freude und Stolz über Erfolge und Errungenschaften in der Regel nur kurz anhalten.
- Wenn wir den Unterschied zwischen Planen und Sorgen machen nicht erkennen, laufen wir Gefahr ins Grübeln zu kommen oder eine Angstproblematik zu entwickeln.
- Vorsichtiges Verhalten kann uns auch in Gefahr bringen, weil wir unserer Umwelt schwächer und ängstlicher erscheinen.
- Sich aufdrängende Erinnerungen schwerwiegender Ereignisse können sich zu einer posttraumatischen Belastungsstörung ausweiten.
- Positives Denken begünstigt Vermeidungsverhalten, jedoch nicht Misserfolg und Scheitern.
- Fehlende Empathie, geringe Selbsterkenntnis und das Fehlen von planerischer Intelligenz führen zu zwischenmenschlichen Konflikten.
- Das intensive Nachdenken bei schweren, chronischen Erkrankungen kann ein Gefühl der Hilflosigkeit und Frustration erzeugen.
Im Teil 3 (Seite 221 bis 251) werden psychische Störungen, wie Ängste, Zwänge, Depression, Essstörungen, Substanzabhängigkeit und dissoziative Störungen kurz erläutert und mit Beispielen veranschaulicht.
Die Störungen werden unter dem Aspekt als Nebenwirkung evolutionärer Anpassungsprozesse belichtet. Die These, die hierbei zugrunde gelegt wird besagt: Die psychischen Funktionen (aus Teil 1) waren für die gesamte Menschheit als Anpassungsleistung an die Evolution notwendig und sind gleichzeitig für den einzelnen Menschen mit ihren unerwünschte Nebenwirkungen ein Grund für psychische Störungen.
Teil 4 (Seite 254 bis Seite 297) ist eher der praktische Teil und beschreibt wie die Nebenwirkungen der Gehirnfunktionen zu begrenzen sind.
Unerwünschte Wirkungen unseres Denkapparates werden in Zaum gehalten mit:
- Selbsterkenntnis
- Akzeptanz
- Achtsamkeit
- Selbstwahrnehmung
- Fokussierung
- Aktivität und
- Altruismus
Das Buch war für nicht ganz einfach zu lesen, zum Teil weil ich persönlich dem zugrundeliegenden verhaltenstherapeutischen Ansatz als Methode nicht ganz folge und weil ich mir das Buch anders vorgestellt habe.
Der Titel des Buches „Glauben Sie nicht alles, was Sie denken“ trifft somit auch auf mich zu. Denn ich dachte dieses Buch sei eher witzig geschrieben und erklärt in leichter Sprache die Zusammenhänge von Verhalten und Gehirnfunktionen. Aber da bin ich wohl einer fehlerhaften mentalen Simulation aufgesessen.
Ja, dieses Buch steckt voller Informationen zu unseren Gehirnleistungen. Manchmal verständlich und einfach ausgedrückt – meistens in komplizierten Sätzen dargelegt.
Die wirklich vielen Beispiele sollen einen Bezug zum Alltag veranschaulichen.
Die Kernfrage, die mich beschäftigte, während ich das Buch gelesen habe: „Für wen ist dieses Buch geschrieben?“
Für Therapeuten? Dann ist der Inhalt zu allgemein. Denn was im Buch steht, sollte ein Therapeut schon wissen.
Für psychisch Erkrankte? – Eher auch nicht. Man ist ja nicht an „Allem“ erkrankt, was im Buch beleuchtet wird. Es gibt meiner Meinung nach bessere Bücher für ein Empowerment.
Für Interessierte? – OK. Dann müssten diese Leser aber zu einem Kreis gehören, der mit Fremdwörtern und komplizierten Zusammenhängen kein Problem hat.
Ich habe also immer noch keine passende Antwort auf meine Frage, an wen dieses Buch gerichtet sein soll.
Laut den Autoren soll es ein Sachbuch für alle Menschen sein – eine Hausapotheke für jedermann. Vielleicht sollte man es auch so nutzen. Eine Hausapotheke steht im Schrank und bei Bedarf nimmt man sich das, was man daraus benötigt heraus. Vielleicht sollte man dieses Buch immer wieder mal zur Hand nehmen, um darin ein Kapitel zu lesen, versuchen dies zu verstehen und sich das Gelesene bewusst machen.